Beliebter Fotohintergrund - mein Zyklus Fiskultura
Beliebter Fotohintergrund – mein Zyklus Fiskultura. Teile davon sind zur Zeit in der Oberhafenkantine zu sehen

Aus der Einführung zu meinem Zyklus „Fiskultura“ von Michael Klessmann anläßlich des Sommerfestes des Russisch-Deutschen Handelsgilde Hamburg:

Bevor die Bolschewiki 1917 in Russland an die Macht kamen, war Sport weitgehend ein Privileg der besser betuchten und adligen Gesellschaft. Die Revolution machte den Sport und die Körperertüchtigung den breiten Massen zugänglich, nicht zuletzt auch aus ideologischen tiefer gehenden und weitreichenderen Überlegungen ihrer Vordenker. Lenin selbst sah im Sport ein Instrument zur Formung einer „besseren“ Gesellschaft. Lenin, selbst ein leidenschaftlicher Sportler, unterschied sich in seinen Ansichten nicht wesentlich von den Vordenkern des Körperkultes des 19.Jahrhunderts und ihren Ansichten über die charakterbildenden Eigenschaften des Sports – „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“. In Zement gegossen wurden seine Ansichten dann auf dem dritten All-russischen Kongress der kommunistischen Jugend: „Die physische Kultur (die spätere Fiskultura) der jüngeren Generation ist ein essentielles Element des kommunistischen System der Förderung junger Menschen, ausgerichtet auf die Schaffung eines harmonisch entwickelten, kreativen Bürger der kommunistischen Gesellschaft“. Eine Novelle von Nikolai Chernyshevsky und deren Held Rakhmetov hatten es den Führern der Revolution besonders angetan. Rakhmetov erkannte als er sich dafür entschied seinen Körper zu entwickeln – zu ertüchtigen, dass nicht allein sportliche Betätigung sondern alle Arten körperlicher Arbeit notwendig waren um seinen Körper zur Vollkommenheit zu bringen.

Auch wenn man die Nähe heutiger Fitness- und Jugendwahn zu solchen Überlegungen nicht gerne sehen mag – ganz von der Hand zu weisen ist die Ähnlichkeit nicht – auch wenn körperliche Arbeit höchsten noch in Teambildungsseminaren und in der Freizeit praktiziert werden. Zurück zur Anfangszeit der Sowjetunion: Einer der Aspekte der sozialistischen-sportlichen Überlegungen war der Gedanken das der ausschließlich passive Genuss einer Sportveranstaltung und der Sport als Kampf gegeneinander ein ziemlich burgeauoises Vergnügen und unsozial sind. Die Hardcore-Befürworter einer solchen These wollten gleich alle klassischen Mannschaftssportarten auf den Index setzen und erschufen stattdessen eine Sportkultur basierend auf theatralischen Massenspektakeln und einer großen Menge an Teilnehmern, die Zuschauer zum eigenen Mitmachen animieren sollten. Der Fiskulturnik war geboren. Und die Saat ging auf: Mit jeder Parade wuchs die Zahl der Teilnehmer: 1933 stellten bei der Fiskultur-Parade zum 1.Mai 105000 Menschen auf dem roten Platz ihre Körper zur Schau. Leidenschaftlicher Fotograf der Paraden und Darstellungen war Alexander Rodchenko, dessen Bilder legendär und stilbildend bis heute die Ästhetik von Werbung und Fotografie prägen. Rodchenko war nicht der einzige Protagonist der russischen Avantgarde der von den Massenveranstaltungen fasziniert war. Beseelt von der Idee mit einer neuen Gesellschaft auch eine neue Kunst zu schaffen, proklamierten sie den Tod von Museen und Galerien – den Mausoleen der Kunst – und wollten die Straßen, Fabriken und Wohnungen zu „lebendigen Fabriken menschlichen Geistes“ machen. Der Dichter und Schriftsteller Vladimir Majakovsky rief dazu auf:„ Lasst uns die Straßen zu unseren Pinsel und die Plätze zu unseren Paletten machen!“ In den ersten fünf Jahren nach der Revolution waren die Avantgarde, die Konstruktivisten nicht nur enthusiastisch mit der theoretischen Schaffung ihrer neuen Kunst beschäftigt, sondern organisierten und choreografierten aktiv die Paraden zu den Mai und Oktober-Feiertagen

Ein Befehl an die Armee der Künstler

Bring die Klaviere auf die Straßen
Hängt die Trommeln an Bootshaken aus den Fenstern
Spielt die Klaviere, schlagt die Trommel
Lasst es scheppern und donnern
Genug der halbherzigen Wahrheiten
Löscht den alten Müll aus euren Herzen
Wir werden die Straßen für Gemälde nutzen
Unsere Paletten werden die weiten Plätze sein
Der Tag der Revolution soll jetzt besungen warden
Vom tausendjährigen Buch der Zeit
In die Straßen
Vereint euch mit der Menge
Futuristen, Trommler und Meister der Reime

Wladimir Majakowski, März 1918

Volles Atelier
Volles Atelier

Wenn man sich die anfänglichen Paraden der Vorkriegszeiten ansieht ist man als unbeteiligter Beobachter zunächst einmal verblüfft über die Vielfalt der Darbietungen und zugleich fühlt man sich erinnert und findet erstaunliche Parallelen in der heutigen Zeit auch in Hamburg: Eine Mischung aus Loveparade, Schlagermove und Karneval der Kulturen, gemischt mit den Schiffsparaden des Hafengeburtstages die ebenfalls jedes Jahr hunderttausende als Zuschauer und Mitmacher auf die Straßen bringen. Wer die Begeisterung der Massen nur der Propaganda zuschreibt, macht es sich dabei zu einfach. Die Menschen machten mit Begeisterung bei den Paraden mit, stellten sich und ihre Kreativität öffentlich zur Schau, mit großem Körpereinsatz, fantasievoll oder auch spärlich bekleidet, mit Tanz- und Sportdarbietungen. Sport war Ausdruck von Luxus. In der feudalen vorrevolutionären Zeit konnte es sich nur die Elite leisten ihren Müßiggang durch sportliche Betätigung aufzulockern, die breite Masse war nach der anstrengenden Arbeit auf dem Feld oder in den Fabriken körperlich gar nicht mehr in der Lage auch nur an Sport zu denken. Der soziale und industrielle Fortschritt erlaubte es nun fast jeden sich in der Freizeit zu betätigen. Noch gab es viele Analphabeten und Sport war eine wenigen Möglichkeiten sich auch ohne Schrift auszudrücken. Und die Menschen waren kreativ. Die menschlichen Pyramiden gehörten dabei zu den eindrucksvollsten Gruppen und waren beliebtes Fotoobjekt bei Alexander Rodchenko. Auch in der Kindheit und Jugend von Lilia Nour gab es diese Paraden im Russland der 70er und 80er Jahre noch und trotz der inzwischen erfolgten fast kompletten Vereinnahmung durch Partei und Staat machten die Paraden immer noch Spaß jenseits von Ideologie. Diese Begeisterung und vor allem die Begeisterung der frühen Sowjetunion versuchte Lilia Nour in und mit ihren Bilder zu transportieren unabhängig davon, dass die meisten Protagonisten der russischen Avantgarde mit der Machtergreifung Stalins in Ungnade fielen.

Der Enthusiasmus kurz nach der erfolgreichen Revolution, der die gesamte Gesellschaft durchzogen hatte, Künstler und Kreative beflügelte, eine der fruchtbarsten Perioden der europäischen Kunstgeschichte ging zu Ende: Die russische Avantgarde. Die bekanntesten Vertreter wie Chagall, Kandinsky, Rodtschenko, und Malewitsch fielen in Ungnade oder wanderten aus. Der theoretische Ansatz der Avantgardisten ließ sich mit den politischen Forderungen nach einer funktionalen Kunst nicht vereinbaren. Malewitsch erhielt Ausstellungs- und Publikationsverbot. Die russische Avantgarde der Kunst war im Zeitalter des Stalinismus verfemt, selbst Künstler distanzierten sich von ihren früheren Werken. Übrig blieb die harmlose Fiskultura (russisch Физкультура; Kofferwort von Fisitscheskaja kultura russisch Физическая культура).

Eine persönliche Anmerkung: Mich als geborenen Westdeutschen und Hanseaten befremdete Lilias Projekt zunächst als sie mir die ersten Bilder vorstellte. Je länger sie mir davon erzählte und je mehr ich mich versuchte von meinen gewachsenen Vorurteilen zu befreien, desto mehr erschloss sich mir eine faszinierend fremde Welt – und desto mehr konnte ich ihre Begeisterung nachvollziehen. Sofort offensichtlich war mir als Fotograf die Qualität und Vielseitigkeit der Arbeit von Alexander Rodtschenko, sperriger schon die Beschäftigung mit Majakowski. Erst der sprichwörtliche Zusammenhang ihrer Geschichten brachte mir die damalige Zeit näher. Wie sie, die Helden der Avantgarde disziplinübergreifend und begeistert für etwas arbeiteten was sie als ihre Sache ansahen, nicht nur zufällige Zeitgenossen, entkoppelt als Atome irgendwo in den weiten des russischen Landes, sondern in Wohn- und Arbeitsgemeinschaften, besessen von ihren Ideen, die Nächte durcharbeiteten, feierten und verbrannten, auch heute noch tauglich als Helden. Auch der nüchterne ideologiefreie Blick auf die Paraden hat mich fasziniert. Dank moderner Medien stehen die Aufzeichnungen heute jedem im Internet zur Verfügung, die Informationsfreiheit ermöglicht es, die Maiparade von 1939 ebenso wie die von 1945 zu sehen. Faszinierende Bilder aus der Vergangenheit, mit Tanzchoreografien die auch heute noch aktuell scheinen und fantasievollen Kostümen, die Zuschauer in weiß gekleidet und fröhlich …